Leseprobe:

Die Murmel

Da lag sie. In der Sandkuhle. Irgendjemand musste auf sie getreten sein, sie war tief im Sand vergraben und kaum zu sehen.

Er blickte sich um. Am Ausgang des Spielplatzes gingen drei Jungen und ein Mädchen. Er kannte sie nicht, hatte sie nur jeden Tag von weitem beobachtet. Beim Spielen. Hatte ihnen zugesehen, wie sie ihre Murmeln über den Sand trieben, lachten und sich nie stritten. Sie mussten gute Freunde sein.

Er hatte keine Freunde. Auf dem Spielplatz nahm ihn niemand zur Kenntnis, er saß jeden Nachmittag am Rand auf der Querstange des Zauns, baumelte mit den Beinen und schaute den anderen Kindern zu.

Die Vier waren immer so in ihr Spiel vertieft, sie nahmen keines der anderen Kinder wahr, sie brauchten kein anderes Kind.

Und weil er dies spürte, saß er jeden Tag wieder auf der Stange und sah ihnen zu. Er bat nie darum, mitspielen zu dürfen. Wie sollte er auch, er hatte keine Murmeln.

Bis jetzt. Jetzt hatte er die Murmel gefunden. Es war eine große Murmel, dunkelrot, schillernd. Er grub sie aus dem Sand, rieb sie zwischen seinen Händen, bis sie wieder blank war. Sie funkelte in der Sonne. Wenn er sie gegen das Licht hielt, sah er in ihrem Innern Wellen in verschiedenen Rottönen, in denen sich das Sonnenlicht brach. Das Rot wechselte vom schwarzrot der Kirschen aus dem Garten seiner Großmutter über das leuchtende Rot der Coca-Cola-Plakate bis zum dicken Rot des Tomatensafts, den sein Vater trank.

Er drehte die Murmel in den Händen, rieb sie an seiner Hose noch blanker, hielt sie fest in der Faust. Sie war ganz warm und wurde in seiner Hand immer wärmer. Er nahm sie von der rechten in die linke Hand, steckte sie in die Hosentasche, holte sie wieder heraus und drehte und wendete sie im Licht.

Er würde die Murmel mitnehmen. Dann hatte er auch eine, dann konnte er mitspielen. Sein Herz schlug schneller, er spürte das Pochen im Hals. Er stellte sich vor, wie er sie ansprechen würde, ohne ein Beben in der Stimme, lässig, so als wäre es ihm egal, ob sie ihn in ihre Runde aufnehmen würden. Denn das war es, was er wollte, wovon er nun schon seit Wochen träumte, jeden Tag. Er wollte dazugehören. Nicht zu irgendwem, nicht zu einem der anderen Kinder, die immer auf den Spielplatz kamen. Zu ihnen wollte er gehören, zu den drei Jungen und dem Mädchen, dessen Namen er noch nicht einmal kannte. Vor allem ihr Freund wollte er sein. Und jetzt hatte er endlich eine Murmel, eine Eintrittskarte zu ihrer Gruppe.

Er hielt die Murmel hoch vor sein Gesicht und ließ sie erneut im Sonnenlicht blitzen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung, am Rand des Spielplatzes näherte sich jemand.

….

Auszug aus Deswegen oder trotzdem, erschienen 2025

© Rena Müller

Klappentext

Man findet sie. In der Kindersocke, die in der Pfütze schwimmt. In dem Gürtel, der sich wie eine Schlange im Graben windet. In dem zerfledderten Telefonbuch, das der Wind vor sich hertreibt.

Verlorene Geschichten

Inspiriert von Dingen, die sie am Straßenrand oder auf Waldwegen entdeckt, schreibt Rena Müller von Menschen und ihren Schicksalen, von Liebe und Leid, von Ende und Aufbruch.

Sie erzählt von Anton, der die Vergangenheit sucht, von Karla, die auf die Zukunft hofft, von dem Ehemann, dessen Leben nicht mehr lebenswert scheint, von der jungen Frau, der neues Leben geschenkt wird.

Geschichten vom Suchen und Finden